Referat Zuchtverantwortlichen-Tagung des VDH

Vortrag von Frau Dr. Eichelberg anlässlich der Zuchtverantwortlichentagung des VDH im November
2013
(fett Hervorgehoben von mir)
Rassehunde
Wir wollen die heutige Zuchtverantwortlichentagung zum Anlass nehmen, etwas Neues zu beginnen. Wir wollen ein bestimmtes Thema, hier den „Rassebegriff“, aus verschiedenen Blickrichtungen beleuchten mit dem Ziel, Ihnen einerseits Wissen zu vermitteln, andererseits Ihnen aber auch
Gelegenheit zur Diskussion zu geben. Sie sollen die Möglichkeit haben, eigene Erfahrungen vorzustellen, Zweifel zu klären und vielleicht auch die eigene Meinung zu ändern. Den Anlass zu dem heutigen Thema gab eine Diskussion im wissenschaftlichen Beirat. Dort haben wir uns vor etwa einem Jahr intensiv mit dem Begriff der „Rasse“ beschäftigt, wir haben über den Mythos der Reinrassigkeit diskutiert, wir haben Möglichkeiten angesprochen, die heutigen Rassen zu erhalten, wir haben darüber nachgedacht, weshalb der Kauf von Rassehunden im Zuchtbereich des VDH eindeutig rückläufig ist und wir haben über viele weitere Fragen diskutiert, die zu dem Rassebegriff gehören. Dabei wurde uns immer klarer, dass es höchste Zeit ist, dieses Thema einmal zum Gegenstand einer Zuchtverantwortlichentagung zu machen. Es soll also heute um den Rassebegriff gehen, um vielleicht züchterisch für die eine oder andere Frage einen etwas anderen, möglicherweise einen etwas entspannteren Blickwinkel zu erlangen. Das mag Ihnen im ersten Moment wie das berühmte Eulen nach Athen tragen vorkommen, denn wer, wenn nicht Sie kennt sich mit Rassen aus und ganz gewiss sind wir alle der Überzeugung, dass wir zu diesem Thema viel und zwar Vernünftiges zu sagen haben. Aber ist das wirklich so? Oder verhält es sich nicht vielmehr ähnlich, wie das damals im Zusammenhang mitder Fortbewegung des Hundes der Fall war?
Natürlich waren wir damals auch alle überzeugt zu wissen, wie der Hund sich fortbewegt und welches die wichtigsten Voraussetzungen für eine hundetypische und kraftschonende Fortbewegung sind. Wir hatten festgemauerte Meinungen zur Wichtigkeit der Winkelungen, wir schwadronierten über die angebliche Untugend des Passganges, wir versuchten, längere Oberarme oder kürzere Rücken zu züchten, alles tradierte Meinungen, aber alles, wie sich herausstellte, nicht so ganz richtig. Ich glaube, wir haben ein allgemeines Problem mit dem Wissen um den Hund. Der Hund steht uns so nahe, dass wir verführt sind zu glauben, wir kennen ihn durch und durch. Aber ich bin überzeugt, dass es zum Thema Hund noch viele schwarze Löcher gibt, zu denen wir zwar eine Meinung haben, die aber nicht unbedingt einer Überprüfung oder einem intensiven Nachdenken standhalten muss. Und diese Unsicherheiten führen letztlich immer wieder dazu, dass uns bei Angriffen von außen die Argumente ausgehen. So müssen wir uns ausgerechnet von Politikern sagen lassen, welche Hunderassen vermeintlich gefährlich sind. Das ist eigentlich ein Unding. Wir haben dazu zwar eine Meinung und die wird sogar der Wahrheit recht nahe kommen, aber Beweise im wissenschaftlichen Sinne haben wir nicht. 
Wir müssen uns auch immer wieder anhören, dass Mischlinge erheblich gesünder seien als Rassehunde. Dass sie erheblich klüger seien und natürlich auch erheblich länger lebten als Rassehunde. Diese Mutmaßung ist so alt wie unnötig und bezüglich der gesamten Hundeproblematik völlig überflüssig und deshalb ärgert sie mich, und deshalb möchte ich hierauf etwas ausführlicher eingehen.
Ich frage mich, wie es überhaupt zu der geradezu verbissenen Behauptung hat kommen können, dass Mischlinge gesünder seien als Rassehunde. Ich denke, dies hat keine medizinischen Gründe, sondern es hat eher etwas mit der menschlichen Gesellschaft zu tun. Es gab eine Zeit, da waren Rassehunde ausschließlich im Besitz des Adels. Das waren zum einen kleine Schoßhündchen für die Damen und zum anderen für die Jagd gezüchtete Jagdhunde. Das gemeine Volk, zu dem wir damals Alle gehört hätten, besaßen Hunde, die zur Arbeit jedweder Art genutzt wurden. Da spielte nicht Rasse, sondern Leistung die entscheidende Rolle. Etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Rassehund dann auch immer mehr der Begleiter des gemeinen Volkes. Aber sein Image, irgendwie was Besseres zu sein, blieb erhalten. Der Mischling war so zu sagen der Naturbursche unter den Hunden und der Rassehund der Snob. Bei Naturburschen geht man selbstverständlich und kritiklos von Gesundheit an Leib und Leben aus, den Snob beobachtet man dagegen argwöhnisch. Und dann fing der Snob auch noch an zu schnaufen, zu hinken und Tumoren zu entwickeln. Hinkt der Naturbursche, dann ist das Pech, was eben schon mal passieren kann, hinkt der Snob, dann ist das ein Übel, was man bei diesem Typen geradezu erwartet hat. Und schon ist das Bild fertig! Schon ist daraus so etwas wie eine kulturelle Übereinkunft geworden, die man dann Regel nennt und schon glauben alle ohne jedes Hinterfragen an diese Regel. Dabei spricht gegen die Vermutung des gesünderen Mischlings jede Erfahrung der Kliniker und auch Überlegungen aus dem Bereich der Genetik machen uns zweifeln, aber es gibt auch hier nur Mutmaßungen und keine wissenschaftliche Arbeit, die sich mit diesem Thema in genügender Sorgfalt auseinandersetzt. Und diese Arbeit wird es vermutlich auch in Zukunft nicht geben. Im Grunde kann es sie gar nicht geben. Dass das so ist, liegt in der Natur der Sache, denn wie soll sich ein Wissenschaftler eine Gruppe von Mischlingen zusammenstellen, die tatsächlich alle Mischlinge repräsentiert und welche Rassen soll er auswählen, um etwas Quantitatives über Erkrankungen aller Rassenhunde aussagen zu können? Defekte sind bekanntlich rassespezifisch und somit wird voraussagbar jede pauschale Aussage über die Rassehunde insgesamt falsch werden. Vergisst man z.B. die Teckel, wird es statistisch gesehen zu viel HD und zu wenig Herzerkrankungen geben, vergisst man die Schäferhunde, wird es zu viel Augenerkrankungen und zu wenig HD geben usw. Es ist also mit anderen Worten keine wissenschaftlich begründete Aussage über die gesamten Mischlinge und über die gesamten Rassehunde zu erwarten. Eine Aussage ist allerdings schon mehrfach wissenschaftlich belegt, dass nämlich bei Mischlingen die gleichen Defekte und Erkrankungen auftreten, die wir von Rassehunden kennen. Das ist auch keineswegs erstaunlich, denn schließlich haben beide Gruppen eine nicht zu übersehende Gemeinsamkeit, nämlich in erster Linie Hund zu sein. Und da wir seit langem durch züchterische Möglichkeiten bemüht sind, die Defekte beim Rassehund zu minimieren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Mischlinge nicht gesünder sind als Rassehundeausgesprochen groß, aber zugegeben, bewiesen ist sie nicht.
Aber ich denke, wir sollten aufhören, uns an solchen Scheinproblemen abzuarbeiten. Das ist müßig, denn selbst wenn wir die Gesundheitszustände in Prozenten angeben könnten, welche Konsequenzen sollte dies haben? Hören wir dann auf, Rassehunde zu züchten oder wollen wir die Vermehrung von Mischlingen verhindern oder was soll das Ganze eigentlich? Ich halte dieses Scheinproblem inzwischen für reine Rechthaberei ohne jede Sinnhaftigkeit und ich halte es auch für völlig überflüssig, sich ernsthaft damit auseinander zu setzen. Natürlich kann man noch viele wirklich wichtige Bereiche benennen, die einer Klärung oder einem Überdenken bedürfen, denn Unsicherheiten führen im Ernstfall immer wieder zu einem argumentativen Schwächeln der Hundebesitzer den Kritikern gegenüber. Das muss nicht so bleiben und deshalb sollten wir uns nicht damit zufrieden geben, tradiertes Halbwissen weiterzugeben; wir sollten Wissenswertes diskutieren und uns eine solide Basis verschaffen, um argumentieren zu können. Und genau dazu dienen Veranstaltungen wie diese.
Überlegen Sie bitte, wie viele völlig unsinnige und zum Teil sogar negativ belegte Begriffe wir im Zusammenhang mit der Hundezucht verwenden. Wir sprechen überzeugt von Blutlinien, obwohl Blut nun so gar nichts mit Vererbung zu tun hat und obendrein hat dieser Begriff auch noch eine sehr unschöne Vergangenheit.
Wir reden von Reinzuchten, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, für welche Rasse dieser Begriff wohl zutreffend sein könnte, und auch der Begriff des „besonders guten Vererbers“ geht uns sehr überzeugt und locker von den Lippen, obwohl das mehr Wunschdenken als Wahrheit ist, denn wer hat bei der Fülle der Zuchtziele in der Hundezucht durch eine statistisch gesicherte Nachkommenüberprüfung je den „besonders guten Vererber“ ermittelt? Ich wage, zu behaupten: Niemand.
Aber was versprechen wir uns nun genau von der heutigen Thematisierung des Rassebegriffes und den Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten? Zunächst einmal die Einsicht, dass alle Hunderassen Kunstprodukte sind. Sie sind von Menschen gemacht, sie hätten nie ohne Menschen entstehen können und sie sind so instabil, dass sie laufend seines Eingreifens bedürfen, denn ohne das Eingreifen des Menschen verschwänden die Rassen von einer Generation zur anderen. Die spannende Frage ist, wie wir Menschen das „Kunststück“ dieser Rassenvielfalt fertiggebracht haben? Das war nicht allein unser Verdienst, sondern es lag an einem ausgesprochen glücklichen Ausgangspunkt. Uns stand nämlich das großartige und überaus geeignete „Naturprodukt“ Wolf zur Verfügung und dessen Genom haben wir dann so zu sagen züchterisch aufgearbeitet. Wir haben letztlich aus dem Naturprodukt ein Kulturprodukt gemacht. 
Eine weitere Einsicht, an die wir uns gar nicht oft genug erinnern können, ist die, dass für uns aus diesem kreativen Schaffen eine Verpflichtung entstanden ist. Wir tragen nämlich die volle Verantwortung für das, was wir da an Geschöpfen hervorgebracht haben.
Freiwillig wären die Hunde keine Rassehunde geworden, sondern Wölfe geblieben. Und wir haben obendrein noch das unglaubliche Glück gehabt, dass wir aus dem Genom des Wolfes im Laufe der Zeit nicht nur die enorme Vielfalt bezüglich des Aussehens und der Leistung herauszüchten konnten, sondern es ist noch etwas anderes passiert, was nicht voraussehbar war: Nämlich, dass der Hund uns Menschen mag, dass er uns mehr schätzt als seine Artgenossen, was seine Einmaligkeit im Tierreich ausmacht. Und wenn wir uns das wirklich vor Augen halten, dann muss uns so manches, was wir den Hunden züchterisch angetan haben, unendlich peinlich sein. Wir hätten da ganz gewiss so einiges gut zu machen. Nun sind sie also da unsere Rassehunde und sie stellen sicher eins der bemerkenswertesten Experimente menschlichen Schaffens dar. Gleichzeitig konfrontieren sie uns aber mit einem geradezu unlösbaren Problem. In unserem züchterischen Verhalten tun wir immer so, als seien Rassen etwas total Statisches. Das drückt sich allein schon dadurch aus, dass wir Rassestandards aufstellen, also Idealbilder, die es zu erreichen gilt. Hier liegt aber ein ganz entscheidender Irrtum. Natürlich müssen wir Rassestandards aufstellen, um unsere Zuchtziele zu definieren. Aber das züchterisch Dümmste, was wir jetzt anstreben könnten, wäre das Ziel, möglichst viele Champions, also Idealbilder zu erzeugen.
Jede gute Zucht wird immer drei Gruppen von Nachkommen aufweisen, nämlich eine kleine Gruppe von eher standardfernen Hunden, eine ebenfalls kleine Gruppe von Vollendeten im Sinne des Standards, die wir Champions nennen und eine möglichst große Gruppe von Hunden, die in jeder Beziehung als gute Hunde zu bezeichnen sind. Und hier setzt jetzt so mancher Denkfehler ein: 
Wir müssen nämlich begreifen, dass nicht der Champion, sondern diese große mittlere Gruppe das eigentliche Kapital des verantwortungsbewussten Züchters darstellt. Denn aus dieser Gruppe rekrutiert er nämlich immer wieder neue Generationen. Würde er nur das Idealbild, also Champions miteinander verpaaren, wäre jede Rasse in wenigen Generationen am Ende. Das sollte bei der Zuchtplanung zu denken geben.
Die vordringlichste Aufgabe, die auf uns zukommt, besteht darin, die Hunderassen zu erhalten und zwar nicht als museumsreife Restposten, sondern als gesunde und lebensfrohe Geschöpfe. Das wird uns auch gelingen, wenn wir nur klug und mit Bedacht vorgehen. Um aber klug und mit Bedacht vorgehen zu können, müssen wir uns zunächst im Klaren darüber sein, worin eigentlich die Bedrohung unsere Rassen besteht. Und da fallen Züchtern und Hundebesitzern wahrscheinlich in erster Linie Krankheiten ein, Defekte des Skelettes, der Augen, des Herzens usw. Das halte ich aber für nicht richtig. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich will nicht die Belastung herunterspielen, die durch Krankheiten entsteht, aber Krankheiten gehören wie der Tod zum Leben. Total gesunde oder gar erbgesunde Hunde gibt es nicht, wie es auch keine total gesunden oder erbgesunden Menschen gibt. Und dass Krankheiten in Zuchten auftreten, ist ein geradezu zwangsläufiges Ereignis einer jeden Rassezucht. Jeder, der Rassezucht betreibt, geht das Risiko ein, kranke Nachkommen zu erzeugen. Das ist zwar unschön, aber unvermeidbar. Die Unvermeidbarkeit besteht darin, dass bei jeder Rassezucht eine natürliche Selektion fehlt. Und dieses Manko verstärken wir noch dadurch, dass durch unvernünftige Zuchtplanung eine genetische Verarmung herbeigeführt wird, die ihrerseits noch einmal das Auftreten von Defekten begünstigt.
Und damit nähern wir uns dem eigentlichen Übel: Der Rassehundezucht drohen nämlich zwei Gefahren, die wir, die besten Freunde des Hundes, selbst heraufbeschworen haben: Das ist die genetische Verarmung innerhalb der Rassen und die modische Übertreibung der Rassestandards. Beides hausgemachte Probleme.
Eine genetische Verarmung ist in der Rassezucht nicht absolut vermeidbar. Sie ist aber bei rechtzeitigem und umsichtigem Eingreifen in erträglichen Grenzen zu halten. Solange der vermeintlich „beste Vererber“ in den Köpfen der Menschen und im Zuchtgeschehen der Rassen die Hauptrolle spielt, ist eine genetische Verarmung und damit auch alle Folgen dieser Verarmung vorprogrammiert.
Und wenn Sie einmal ganz kritisch überlegen, was die Rassehundezucht in der Öffentlichkeit zu recht in Misskredit gebracht hat, dann ist das nicht die HD oder die PRA, dann sind es Standardübertreibungen, also modische Einflüsse, die noch keiner Rasse gut getan haben, aber die so mache Rasse schon in die Sackgasse geführt haben. Kurze Beine, kurze Nasen, imponierende Größe oder verspielte Kleinheit sind ausnahmslos akzeptabel, im Gegenteil, sie machen das Experiment „Hunderassen“ so aufregend bunt. Wenn hier aber das rechte Augenmaß verloren geht und aus einem anatomischen Merkmal eine Behinderung wird, dann machen wir uns schuldig, dann sind nicht die Rassehunde, sondern ihre Macher, also wir, schlicht erbärmlich. Was also ist zu tun, um die Zukunft unserer Rassehunde zu sichern? Der Wunsch eines Züchters, schöne Hunde zu züchten, ist legitim. Nur darf er die züchterisch richtige Priorität nicht aus den Augen verlieren. Nicht der Champion ist das Maß aller Dinge. Die solide Basis einer erfolgreichen Zucht wird durch den guten, gesunden und verhaltenssicheren Durchschnittshund repräsentiert. Er gibt Hoffnung auf weitere Generationen guter, gesunder und verhaltenssicherer Durchschnittshunde. –und mit viel Glück vielleicht auch mal einen Champion.